Mittwoch, 20. Februar 2013

ANDREAS CAPELLANUS: DE AMORE: Amor est passio...

1.) Amor est passio quaedam innata procedens ex visione et immoderata cogitatione formae alterius sexus, ob quam aliquis super omnia cupit alterius potiri amplexibus et omnia de utriusque voluntate in ipsius amplexu amoris praecepta compleri.
=Die Liebe ist eine (gewisse) Leidenschaft, die aus dem Sehen hervorgeht und aus dem unmäßigen Denken an eine Person (Gestalt, Schönheit) des anderen Geschlechts, wegen der irgendeiner vor allen Dingen durch Umarmungen sich des anderen bemächtigen will und daß alle Vorschriften der Liebe gemäß dem Willen beider (in gegenseitiger Übereinstimmung) bei der Umarmung seiner selbst (in der Liebe zu sich selbst; seiner Person?) erfüllt werden.
2.) Quod amor sit passio, facile est videre.
=Die Tatsache, daß die Liebe eine Leidenschaft sei, ist leicht einzusehen.
Nam antequam amor sit ex utraque parte libratus, nulla est angustia maior, quia semper timet amans, ne amor optatum capere non possit effectum, nec in vanum suos labores emittat.
=Denn bevor die Liebe auf beiden Seiten ausgewogen ist, gibt es keine größere Schwierigkeit (als diese), weil der Liebende immer fürchtet, daß die Liebe den gewünschten Erfolg (Wirkung) nicht bringen kann und daß er auch noch seine Mühen vergeblich aufwendet.
3.) Vulgi quoque timet rumores et omne quod aliquo posset modo nocere;
=Auch fürchtet er das Gerede des Volkes und alles, was auf irgendeine Weise schaden könnte;
res enim imperfectae modico turbatione deficiunt.
=denn unvollendete Dinge gehen schon durch eine kleine (mäßige) Verwirrung (Unruhe, Sturm) zu Ende ("den Bach hinunter"; down hill!).
4.) Sed et si pauper ipse sit, timet ne eius mulier vilipendat inopiam;
=Aber wenn er auch noch selber arm ist (sogar noch arm ist), fürchtet er, daß seine Frau seinen Mangel geringschätzt;
si turpis est, timet ne eius contemnatur informitas vel pulchrioris se mulier annectat amori;
=wenn er (aber) häßlich ist, fürchtet er, daß seine Häßlichkeit verachtet wird oder die Frau sich der Liebe zu einem anderen anschließt;
si dives est, praeteritam forte tenacitatem sibi timet obesse.
=wenn er reich ist, fürchtet er, daß ihm (ihnen) vielleicht seine frühere (vergangene) Sparsamkeit (Festhalten am Geld) schadet.
5.) Et ut vera loquamur, nullus est qui possit singularis amantis enarrare timores.
=Und um die Wahrheit zu sagen (Damit wir Wahres sprechen), es gibt keinen, der nicht die Schrecken des einseitig Liebenden aufzählen könnte (keinen von der Art, daß; konsekutiver Konjunktiv!)
Est igitur amor ille passio, qui ex altera tantum est parte libratus, qui potest singularis amor vocari.
=Jene Liebe ist daher die Leidenschaft, die nur auf der einen Seite ausgewogen ist (im Gleichgewicht ist)  und die (deshalb) einseitige Liebe genannt werden kann.
6.) Postquam etiam amor utriusque perficitur, non minus timores insurgunt;
=Auch wenn die Liebe beider vollendet wird (zur Vollkommenheit gelangt), erheben sich nicht weniger Ängste (kommen nicht weniger Ängste auf).
uterque namque timet amantium ne quod est multis laboribus acquisitum per alterius labores amittat, quod valde magis onerosum constat hominibus quam si spe frustrati nullum sibi suos fructum sentiant (sibi) affere labores.
=jeder von beiden Liebenden fürchtet(=beide fürchten) nämlich, daß er, was durch viele (mit vielen) Mühen erreicht (erlangt) worden ist (erworben worden ist; man sich verschafft hat), durch die Taten des anderen verliert, weil es feststeht, daß dies für die Menschen beschwerlicher ist, als wenn sie, in der Hoffnung getäuscht (betrogen), fühlen (glauben), daß ihnen ihre Mühen keinen Ertrag bringen (sich nicht auszahlen).
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Übersetzung by
magister militum SIR R
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Capellanus lebte u.a. am Hof der MARIE DE CHAMPAGNE, einer Kunstmäzenin für höfische Lyrik.
Zwischen 1174 und 1186 entstanden "De amore libri tres", in dem er diese mehrfach erwähnt. Das Buch ist an den fiktiven (?) Freund Gualterius als Unterweisung gerichtet.
Buch1: das Erlangen der Liebe+Definition+Dialog zwischen Mann und Frau
Buch 2: das Erhalten der Liebe+Beispiele für den Verlauf von Beziehungen
Buch 3: Kampf gegen die Liebe, z.T. frauenfeindlich! (Capellanus war Geistlicher!)
1404 wurde es von EBERHARD VON CERSE ins Deutsche übertragen. Eine englische Ausgabe trägt den Titel "The Art of COURTLY LOVE".
neuere Ausgaben: von Fidel Rädle (wollte nicht so heißen!) und von Fritz Knapp.
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The SIR